Wer nicht wählt, bewirkt nichts. Eine hohe Stimmbeteiligung kann das Zünglein an der Waage sein, damit es ein Vertreter aus der Region nach Bundesbern schafft. Eine Analyse von Kollege Roger Probst und mir zu den Resultaten der Nationalratswahlen im Berner Oberland.
Vier Nationalräte stellt das Berner Oberland. Alle vier kommen aus dem Westen: Der Verwaltungskreis Frutigen-Niedersimmental stellt zwei, Obersimmental-Saanen und Thun je einen. Dabei darf man den in Frutigen geborenen Uetendorfer Gemeindepräsidenten Albert Rösti (SVP) zu gut der Hälfte ebenfalls Frutigen-Niedersimmental zurechnen. Diese Verteilung deckt sich nur schlecht mit der Bevölkerungszahl. Per Ende 2017 zählte der Verwaltungskreis Thun 107484 Einwohner. An zweiter Stelle folgte deutlich abgeschlagen Interlaken-Oberhasli mit 47542. Frutigen-Niedersimmental brachte es auf 40143 und Obersimmental-Saanen gar nur auf 16676 Einwohner. Trotzdem haben sie auf der politischen Ebene national ein Übergewicht.
Dabei wollte man es heuer im Verwaltungskreis Interlaken-Oberhasli besonders gut
machen. Ein überparteiliches Komitee versuchte die drei aus seiner Sicht aussichtsreichsten Kandidaten – Marianna Lehmann (FDP), Urs Graf (SP) und Andreas Michel (SVP) – zu pushen. Mit wenig Erfolg. Der Bestklassierte kam auf seiner Liste auf Rang 6 – was dem 5. Ersatzrang entspricht.
Fehlen die Köpfe? Fehlt das politische Talent? So mag man sich zwischen Oberhasli und Bödeli und entlang der Lütschinen fragen. Mitnichten. Sonst würde man wohl kaum gleichzeitig mit Christine Häsler (Grüne) und Christoph Ammann (SP) zwei Regierungsräte stellen.
Nein, der Grund steht jeweils unter den Resultaten in einer Prozentangabe: Es ist die Stimmbeteiligung. Gerade mal 44,3 Prozent der Stimmberechtigten des Verwaltungskreises Interlaken-Oberhasli nahmen an den Wahlen teil. Im Kreis Thun waren es 46,7 Prozent. Beides liegt unter dem kantonalen Durchschnitt (47,4). Im Kreis Obersimmental-Saanen gingen hingegen 50,7 Prozent an die Urne und in Frutigen-Niedersimmental gar 51,5 Prozent.
Dieser Unterschied wirkt sich offensichtlich aus. Und er ist nicht neu: Traditionell hinkt Interlaken-Oberhasli bei der Stimmbeteiligung hinterher. Obwohl hinterherhinken im Hinblick auf die stetig sinkende Wahlbeteiligung wohl der falsche Ausdruck ist und es voraustorkeln besser trifft. Am weitesten «voraus» im Bernischen ist in dieser Hinsicht der Jura bernois mit einer Wahlbeteiligung von 36,8 Prozent. Das reichte auch mit 53768 Einwohnern nicht mehr für einen Nationalrat.
Aber bringt eine Nationalrätin, ein Nationalrat einer Region überhaupt etwas? Schliesslich ist dieser der Schweiz als Ganzes verpflichtet und sollte sich nicht in der Lokalpolitik verirren. So einfach ist die Trennung aber nicht. Und für eine Region kann es entscheidend sein, sich direkt im Parlament Gehör zu verschaffen. Beispielsweise im Sommer 2014, wo Bundesrat und vorberatende Kommission den Direktanschluss des Flugplatzes und die Interlakner Nord-Süd-Traverse aus dem
2. Agglomerationsprogramm strichen. Damals sprang der Frutiger Nationalrat Jürg Grossen (GLP) in die Bresche und brachte die Bödeler Anliegen erfolgreich aufs Parkett.
Aber noch fast wichtiger ist die Funktion als Türöffner. Ein Anliegen hat es in den Verwaltungen jeglicher Stufe einfacher, wenn es von einem Bundesparlamentarier mitgetragen wird. Wo Gemeinden oder Regionen als Bittsteller an die Türen der Amtsstuben klopfen, verkehrt ein Nationalrat mit den Entscheidungsträgern auf Augenhöhe. Weiter haben Parlamentarier oft einen Wissensvorsprung, weil sie höher in der Informationskette sind. Auch hier können sie ihrer Region von Nutzen sein.
Aus Oberländer Sicht ist es deshalb begrüssenswert, dass die vier Sitze gehalten werden konnten. Noch besser wäre es aber, wenn sie ausgeglichener über die gesamte Region verteilt wären. Dazu müssten aber die Stimmberechtigten der Kreise Thun und vor allem Interlaken-Oberhasli vermehrt an die Urne gehen.
Ein Blick in die Statistik verrät Spannendes: Die Einwohner im Verwaltungskreis Thun sind im schweizweiten Vergleich überdurchschnittlich interessiert am Politgeschehen. So liegt die Stimmbeteiligung in 28 von 32 Gemeinden über dem schweizweiten Wert von 45,1 Prozent. Spitzenreiter sind die Oberhofner: 59,8 Prozent gingen an die Urne. In Horrenbach-Buchen waren es 59,6 Prozent. «Es freut mich, dass unsere Bürger interessiert sind», sagt Oberhofens Gemeindepräsident Philippe Tobler (SVP). Überrascht von der guten Stimmbeteiligung sei er aber nicht, zeige sich doch das Engagement auch auf Gemeindeebene, zum Beispiel an der regen Teilnahme bei Gemeindeversammlungen oder Infoveranstaltungen. Für Tobler ist die hohe Stimmbeteiligung auch der Altersstruktur im Dorf geschuldet. «Ältere Menschen gehen in der Regel eher an die Urne.» Politikmuffel leben dafür in der Gemeinde Heimberg. Dort wollten nur 40,5 Prozent der Bürger mitbestimmen, wer die Geschicke der Schweiz in den nächsten vier Jahren leitet. «Ich bedaure die tiefe Beteiligung», sagt Gemeindepräsident Niklaus Röthlisberger (SVP). Aus allen Wolken sei er aber nicht gefallen. «In Heimberg hat eine tiefe Stimmbeteiligung leider Tradition.» Der Gemeinderat habe sich bereits den Kopf darüber zerbrochen, wieso dies so sei, zu einer abschliessenden Erkenntnis sei er aber nicht gekommen. «Zwingen können wir niemanden, aber freuen würde es mich auf jeden Fall, wenn Heimberg künftig nicht mehr abfiele», sagt Röthlisberger. Neben Heimberg sind noch Stocken-Höfen (41,2 Prozent), Thun (42,8 Prozent) und Blumenstein (43,7 Prozent) unter dem nationalen Wert. In der zweitgrössten Gemeinde im Verwaltungskreis Thun, Steffisburg, gingen 46,6 Prozent an die Urne. Im ganzen Kanton Bern waren es wie erwähnt 47,4 Prozent.
Der Stadt-Land-Graben ist auch bei den jüngsten Wahlen erkennbar. In den Landgemeinden wird im Allgemeinen konservativer gewählt. So konnte die SVP schon fast traditionell in Horrenbach-Buchen einen absoluten Spitzenwert verzeichnen: 83,7 Prozent. In Wachseldorn gingen 74,4 Prozent der Stimmen für die Volkspartei ein. In den beiden Zentren Thun und Steffisburg waren es 25,6 respektive 28,8 Prozent. Dort trumpften dafür die Grünen als zweite Kraft mit 13,2 respektive 10,1 Prozent auf.
Dieser Text erschien am 24. Oktober im Berner Oberländer und im Thuner Tagblatt.
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