An der Theke herrschte Hochbetrieb. Der Barkeeper hatte alle Hände voll zu tun, damit die Biergläser vor den vielen Gästen nicht leer wurden. Als sich die Türe öffnete, drehten sich alle um und es war still. Charles Tanner betrat den Raum. Sofort stand der selbsternannte Detektiv und Agent im Zentrum der Aufmerksamkeit. «Ihr wundert euch sicher, weshalb ihr mich die letzten fünf Wochen nicht gesehen habt. Das war so…»
Schwach schimmerte der Mond durch die dicken dunklen Wolken. Vergebliche Liebesmüh. Schliesslich gab er es auf und verschwand komplett hinter der grauen Wand. Mir war das nur recht. Ich zog den Hut tiefer und versuchte mein Gesicht hinter dem hochgeschlagenen Kragen vor der kalten Brise und neugierigen Blicken zu schützen. Zwar war die enge Gasse, abgesehen von einigen Ratten, die sich am Inhalt von ungekippten Mühltonnen gütlich taten, leer, doch es war Vorsicht geboten. In meinem Business kann man nie wissen. Ich bin Privatdetektiv. Der Beste. Früher arbeitete ich für die Regierung, doch das ist lange vorbei. Ein dreckiges Geschäft in einem sauberen Büro war das. Heute ist es umgekehrt. Na ja zu mindest ist das Büro dreckig. Wie gesagt: ich bin der Beste. Trotzdem lief das Geschäft nicht gut. Mit «Gabi/Juan»-Aufträgen hielt ich mich über Wasser. Ich stellte Ehemännern nach, die von ihren Frauen verdächtigt wurden, auf Geschäftsreise mit ihrer Sekretärin Gabi zu bumsen. Ich bespitzelte Ehefrauen beim Tanzunterricht, die von ihren Ehemännern verdächtigt wurden, Juan den Tanzlehrer zu vögeln. Meist stimmte der Verdacht. Meine Meinung von der Menschheit im Allgemeinen sank dabei noch tiefer. Doch meine Achtung von der Libido Gabis und Juans stieg beträchtlich.
Dieser Auftrag sollte anders werden. Ich hatte mit meinem Klienten an dieser anonymen, unhygienischen Ecke abgemacht. Erst hatte ich gezögert, den Fall zu übernehmen. Am Telefon redete der Mann nur wirres Zeugs. Er fühlte sich verfolgt, meinte er habe Informationen von nationalem Interesse, witterte eine Verschwörung auf höchster Ebene, fürchtete um sein Leben und glaubte an Ausserirdische. Ein Spinner. Weshalb hatte ich den Fall trotzdem übernommen? Wegen des Geldes. Ich nannte ihm einen Tagesansatz; einen hohen. Und verlangte eine handliche Anzahlung. Am nächsten Tag war die doppelte Summe auf meinem Konto. Einen solchen Auftrag muss man einfach übernehmen.
Ich sah ihn kommen. Eine kleine gebeugte Gestalt in einem grauen Mantel. Er war gerade um die Ecke gebogen, als neben ihm eine schwarze Limousine mit quietschenden Reifen zum Stehen kann. Es fielen Schüsse. Sofort zog ich meine Waffe. Doch alles war schon vorbei. Mit einer Beschleunigung, die zeigte, dass die Luxusschaukel einige hundert Pferde unter der Haube hatte, brauste der Wagen in die dunkle Nacht davon. Mein Klient lag blutüberströmt auf der Strasse. Ich eilte zu ihm und versuchte ihm zu helfen. Ein Blick auf die beiden Einschusslöcher in seiner Brust verriet mir jedoch, dass nichts mehr zu machen war. Pure Willenskraft hielt den Mann am Leben. Unter dem Mantel trug er einen billigen Anzug dessen helle Farbe in auffälligem Kontrast zum vergossenen dunkeln Blut stand. Durch die dicke Brille wirkten die angst- und schmerzerfüllten Augen verzerrt. Mit letzter Kraft flüsterte er mir den Namen eines prominenten Lokalpolitikers zu. Dann hauchte er sein Leben aus. Zumindest die Furcht um sein Leben war begründet.
Während das Blut noch weiter aus seinem nun leblosen Körper floss, durchsuchte ich seine Taschen. Er hatte einen Umschlag bei sich. Und dieser trug meinen Namen. Ich nahm ihn an mich. Ich war wenig erpicht darauf, dass die Polizei eine Verbindung zwischen mir und der Leiche herstellte. Seinen Papieren entnahm ich, dass der verblichene Walter Tschannen hiess, ein kleiner Beamter beim Amt für auswärtige Angelegenheiten (AfaA) war und in einem kleinen Kaff auf dem Land wohnte. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Landei in der Stadt suchte.
Von einem der letzten verbliebenen Münztelefonen aus benachrichtigte ich die Polizei. Natürlich gab ich einen falschen Namen an. Danach ging ich in mein Büro zurück. Ich setzte mich an meinem Schreibtisch, starrte für einen Augenblick in den schwarzen Bildschirm, dann nahm ich den Umschlag hervor. Darin war Geld. Viel Geld. Und eine CD. Mein Blick fiel auf den Abfalleimer. Weshalb nicht einfach die CD wegwerfen? Ich zögerte nur einen Sekundenbruchteil. Dann schob ich sie in den Computer ein. Den Fall musste ich übernehmen. Nicht wegen des Geldes. Dieses hätte ich ohne zu zögern eingesteckt, ohne sonst einen Finger krumm zu machen. Doch der Mann wurde vor meinen Augen erschossen. Als ob das keine Rollen spielen würde. Als ob ich nicht da wäre. Als ob ICH keine Rolle spielen würde. Ein Fehler, der jemand bereuen würde…
Die CD war keine grosse Hilfe. Darauf waren rund ein Dutzend verwackelte Aufnahmen von Lichtern in der Nacht, die leichtgläubige Menschen für UFOs halten könnten. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und beschloss, den Abend in einer Bar zu beschliessen. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde hatten nur noch übel beleumundete Lokale offen. Das passte mit ausgezeichnet. Ich trank meinen überteuerten, gepanschten Whisky während sich eine nicht mehr ganz frische Dame auf der Bühne wenig begeistert entblätterte. Wenig später setzte sich ein junges Ding an meinem Tisch. Sie hiess Jelena und lud mich ein mit ihr Champagner auf ihrem Zimmer zu trinken. Auf meine Kosten. Ich dachte an das Bündel Banknoten in meiner Tasche und war versucht zuzusagen, liess es aber bleiben.
Am nächsten Morgen nahm ich den Fall in Angriff. Obwohl, ob 12.45 Uhr noch als Morgen gilt, darüber lässt sich streiten. Und sofort heisst nach einer kalten Dusche und einer Tasse lauwarmem Kaffee. Ich suchte Walter Tschannen auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Er war als Mitarbeiter ohne besonderen Aufgabenbereich angegeben. Merkwürdig. Denn bei allen anderen Mitarbeiten war ein genauer Arbeitsbereich definiert. Ich rief an und erkundigte mich möglichst unauffällig nach Herr Tschannen und seinen Aufgaben. Ich erhielt höflich aber bestimmt Antwort: Herr Tschannen sei nicht im Haus und seine Aufgaben seien für mich von keinem Interesse und ich solle mich doch bitte zum Teufel scheren.
Dies liess ich aber bleiben und begab mich stattdessen zu Michael Wolf. Wolf war ein hochgeachteter Mann. Eine Stütze der Gesellschaft. Ein erfolgreicher Unternehmer. Das heisst, was er eigentlich unternahm, wusste niemand so genau. Aber er war auf jeden Fall erfolgreich damit. Neben seinen Unternehmungen engagierte er sich auch in der Politik und sass für eine rechtsbürgerliche Partei im Stadtrat. Er war mir von Beginn weg unsympathisch. Mir stand ein Mann gegenüber, der wusste, dass er alles wusste. Und der wusste, dass die Zinseszinsen auf seinem Vermögen mein Jahreseinkommen bei weitem übertrafen. «Nein einen Walter Tschannen kenne ich nicht», meinte er und damit war für ihn das Gespräch mit einem schmierigen Lakaien wie mir beendet. «Eine Frage hätte ich noch», sagte ich, als ich bestimmt zur Türe getrieben wurde. «Wie hältst du es mit UFOs?» Er schaute mich lange. «Alles Unsinn.»
Mit dem wagen Gefühl, es wäre angenehmer gewesen, statt Wolf zu besuchen, mich tatsächlich zum Teufel zu scheren, verliess ich das grosszügige Anwesen. Im Tram gings zurück in die Stadt. In meinem Büro erwartete mich – was selten genug vorkommt – eine angenehme Überraschung. Blond; tolle Figur; lange Beine; unschuldige, grosse, blaue Augen, und ein Dekolleté, das diese unschuldigen Augen Lügen strafte. «Sie müssen Charles Tanner sein», begrüsste sie mich. «Wer will das wissen?», war meine unwirsche Antwort, die aber von meinem lüsternen Blick Lügen gestraft wurde. Ihr Name war Melissa Häberli. Sie arbeitete für das Amt für auswärtige Angelegenheiten. Genau wie mein jüngst verblichener Klient. Das konnte kein Zufall sein. Ein Blick auf ihr elegantes Kleid, die italienischen hochhackigen Schuhe und den zweifellos echten und vor allem teuren Schmuck machte mir schnell klar, dass sie einer ganzen anderen Gehaltsklasse angehörte als Tschannen. Einer Gehaltsklasse von der ich gar nicht wusste, dass es sie im öffentlichen Dienst gibt – zu meiner Zeit auf jeden Fall nicht – und für die sie mit ihren höchsten 30 Jahren viel zu jung war.
«Sie stecken ihre Nase in Sachen, die sie nichts angehen», sagte sie. «Das ist mein Job», war meine Antwort. Sie meinte, ich wisse nicht mit wem ich mich anlege und um was es ginge. «Genau deshalb grabe ich ja nach.» Sie mass mich mit ihren Blicken und es schien ihr zu gefallen, was sie sah. Was mich auf Grund meines derzeitigen Zustands doch eher verwunderte. «Weshalb fragen sie nach Tschannen?» – «Und weshalb, weiss niemand was von Tschannen?» Es war klar, dass wir so nicht weiter kommen. Und Gott, wollte ich, dass wir weiter kommen… Wir entschieden uns, dass mein heruntergekommenes Büro wohl kaum der richtige Ort sei, um das Gespräch in konstruktiver Atmosphäre weiterzuführen. Stattdessen wechselten wir in eine im Moment gerade völlig angesagte Bar nur wenige Ecken weiter.
In der völlig angesagten Bar – das hiess die Drinks waren zu teuer und das Personal arrogant – bemühten wir uns beide erst um Oberflächlichkeiten und vernichteten überteuerten Alkohol in merkwürdigen Farben. Ich erfuhr, dass sie ursprünglich aus einem kleinen Weiler im Emmental stammt. Dass sie drei Brüder aber keine Schwester hatte. Dass ihre Eltern bei einem Unfall starben als sie 14 Jahre alt war. Sie bekam ein Stipendium für eine Eliteuni in Finnland, kam nach dem Abschluss zurück und heuerte beim Amt für Auswärtige Angelegenheiten an, wo sie schnell Karriere machte. Ich erzählte einige Einzelheiten aus meiner Kindheit in Interlaken und aus meiner wenig berauschenden Karriere als Schnüffler, wobei ich einiges beschönigte. Meine Zeit als Agent beim Strategischen Nachrichtendienst liess ich weg. Plötzlich kam mir nämlich in den Sinn, dass bei uns – im Strategischen Nachrichtendienst – immer das Gerücht umging, es gebe in der Schweiz einen zweiten Geheimdienst. Dieser sei nicht beim Departement des Inneren sondern bei jenem des Äusseren angegliedert. Wie das Amt für Auswärtige Angelegenheiten.
Wir machten mehr oder weniger – eher weniger – intelligenten Smalltalk und ich versuchte – eher wenig erfolgreich – zu flirten. Wir redeten um den heissen Brei. «Seien wir ehrlich. Ich weiss, wer Du bist», Melissa liess als erstes die Maske fallen. «Ich weiss von der Rosenkarte-Affäre und vom Hundschopf-Zwischenfall.» Ich musste leer schlucken. Diese Geschichten – schon einige Monate zurück – waren topsecret und eigentlich sollte nur eine halbe Handvoll Personen Bescheid wissen. Sah mich aber in meinem Gefühl bestätigt, dass das Amt für Auswärtige Angelegenheiten mehr war, als ein Verein für gescheiterte Diplomaten. «Was hat der Nachrichtendienst mit Tschannen zu tun», fragte Melissa. Ich musste lachen. Also war sie doch nicht auf dem Laufenden. «Tschannen ist mein Klient», erwiderte ich. «Beim Nachrichtendienst bin ich ausgestiegen.» Sie schaute mich skeptisch an. «Das erklärt einiges.»
«Aber was geht überhaupt ab?», fragte ich. Melissa seufzte und traf dabei eine Tonart, die, wenn man sie in Pillen packen könnte, Viagra aus dem Geschäft geschmiessen hätte. «Ich weiss es nicht. Aber vielleicht sollten wir ehrlich mit einander sein.» Sie machte den Anfang und erklärte mir, was Tschannens Rolle im AfaA war. «Er war für die wirklich auswärtigen Angelegenheiten zuständig.» Ich schaute sie fragend an – und für einmal nicht auf ihre verführerischen Schenkel oder die perfekten Brüste – sondern in die blauen Augen.
«Unser Geheimdienst ist viel weiter definiert als der Nachrichtendienst», erklärte sie. «Wir sind auf alle Fälle vorbereiten.» Tschannens Aufgabe war die Kontaktaufnahme mit Ausserirdischen. Das liess die Bilder auf der CD in anderem Licht erscheinen. «Lange begnügte er sich damit, ohne grossen Aufwand nicht zu wenig Geld zu verdienen», erklärte Melissa. «Aber auf einmal erklärte er, er habe Ausserirdische entdeckt und dass diese regelmässig im Aaretal landeten.» Melissa schüttelte ihre hübschen Locken. Es brauchte einiges an Willenskraft, dass ich trotzdem den Faden nicht verlor. Aus ihrer Erzählung ergab sich das Bild eines Einzelgängers, der mit seiner Aufgabe isoliert den Verstand verlor. Ich entschied mich – wohl Schwanz gesteuert – sie einzubeziehen. «Ich glaube Tschannen war etwas auf der Spur.» Ich erzählte von der CD und meiner Begegnung mit Wolf. «Ich habe ein Angebot», meinte Melissa. Und ich freute mich. «Du verfolgst den Fall weiter. Ich habe eine gut gefüllte Portokasse und zahle den Ansatz, den dir Tschannen versprochen hatte. Mit selbst sind in dieser Sache die Hände gebunden.» Das war nicht, was ich mir erhofft hatte, aber auch gut. Ich erklärte mich einverstanden.
In meinem Büro schaute ich mir die Bilder auf Tschannens CD noch einmal genau. Sie waren doch sehr verwackelt. Oder war das der Alkohol, der seine Wirkung tat? Es war unmöglich zu erkennen, wo sie aufgenommen worden waren. Aber ich hatte ja den Hinweis, dass es im Aaretal sein musste. Dann fiel mir etwas auf: Anscheinend hinterliess Tschannens Kamera automatisch das Aufnahmedatum in mikroskopischer Schrift am unteren linken Bildrand. All die Aufnahmen wurden jeweils an Donnerstagen gemacht. Jede Woche. Zwischen 2.00 und 3.00 Uhr morgens. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Am nächsten Tag stieg in das 9er-Tram und fuhr bis zum Victoriaplatz. Ein unschuldiger kleiner Fussweg führt an einem Häuserblock vorbei. Bei einer bestimmten Hausnummer drücke ich die Klingeknöpfe. Erst links im dritten Stock, dann rechts im Fünften, dann links und rechts im ersten Stock gleichzeitig. Innert kürzester Zeit wurde ich mit Fluchworten in vier verschiedenen Sprachen überschüttet. Ich hatte mich in der Nummer geirrt. Eine Türe weiter klappte es dann: eine Kellertür öffnete sich und ich ging hinein.
Der Empfang war herzlich. «Was willst du alter Waschlappen hier?», fragte mich ein Mann in einem leicht angesengten Laborkittel und zog dabei seine leicht angesengten Augenbrauen hoch. Anscheinend war der gute alte Charlie gerade mit Sprengstoffexperimenten beschäftigt. «Ich brauche deine Hilfe», versuchte ich entwaffnend ehrlich zu sein. «Und weshalb sollte ich dir helfen, du hast uns im Stich gelassen?» Anscheinend klappte die entwaffnende Ehrlichkeit nicht. «Du bist es mir schuldig», versuchte ich eine andere Methode. «Schliesslich habe ich dir mehr als einmal den blitzgescheiten Kopf gerettet.» – «Das war dein verfluchter Job.» Ok, ich hatte es auf die Nette versucht. «Ich könnte natürlich auch stattdessen einer gewissen Ehefrau etwas von Ereignissen in Biglen und der jungen Bardame Trixie erzählen…» Das sass. «Was willst du.» – «Ich brauche den XP-45.» Charlie schaute mich entgeistert an, was mit versengten Augenbrauen gar nicht so einfach ist. «Um Himmels Willen weshalb?» – «Ich bin an einer grossen Sache dran, ich glaube Tom Wolf ist darin verwickelt.» Auf einmal änderte sich Charlies Tonart. «Weshalb sagst du das nicht gleich. Der XP-45 ist völlig veraltet, ich bereite den XP-71 für vor.»
Die XPs waren spezielle Spionage-Flugzeuge. Eine Mischung zwischen Propeller-Flugzeug, Helikopter und Segler. Als Propeller-Maschine/Helikopter waren sie sehr schnell und beweglich und als Segler konnte man lautlos ins Zielgebiet gleiten und beobachten oder auch landen. Als ich den Dienst quittierte war das 45er-Modell das höchste der Gefühle. Doch anscheinend stand auch beim Nachrichtendienst die Zeit nicht still. Die 71er war ein Traum.
Am Donnerstag startete ich mit der XP-71 ins Aaretal und kreiste einem Geier gleich über den Feldern und Bauernhöfen und wartete auf die «Ausserirdischen», die Tschannen zum Verhängnis wurden und deren Enttarnung mich auf Tuchfühlung zu Melissas Dekolleté bringen sollte. Denn dass es hier tatsächlich um Besucher einer fernen Welt gehen sollte, glaubte ich nicht. Nicht, dass ich die Existenz Ausserirdischer prinzipiell ausschliesse. Ich habe schon merkwürdigeres gesehen. Aber weshalb sollten Ausserirdische es nötig haben, einen neugierigen Schnüffler mittels altmodischer Gewehrkugeln, um die Ecke zu bringen. Dann wäre wohl auch Erich von Däniken schon lange abgeknallt worden. Und weshalb sollten intelligente Lebewesen, die das interstellare Reisen gemeistert haben, regelmässig eine trostlose Kugel wie unsere Erde und auf dieser trostlosen Kugel, einen öden Landstrich wie das Aaretal besuchen? Nein das konnte nicht sein. Hier ging etwas anderes vor.
Blinkende Lichter rissen mich aus meinen Gedanken. Da kam etwas geflogen. Es schien rundlich zu sein und glitt lautlos durch die Luft. Waren es doch etwa Ausseridische. Ich weigerte mich das zu glauben. Ich versuchte etwas Höhe zu gewinnen, um das unbekannte Flugobjekt von oben in Augenschein zu nehmen und um einen Zusammenstoss zu verhindern. Gerade rechtzeitig. An der Unterseite des Objekts schaltete sich ein starker Suchscheinwerfer ein und suchte den Boden ab. Der Lichtkegel glitt über Felder und Strassen. An einem Waldrand schien, wer immer auch den Scheinwerfer bediente, fündig geworden zu sein. Das Objekt senkte sich langsam, als es etwa zehn Meter über dem Boden war, schien es tentakelartige Extremitäten fallen zu lassen. Auf dem Grund kam es zu Aktivitäten. Mehrere Männer kamen aus dem Wald und schnappten sich die Tentakel, die sich bei genauerer Betrachtung als Taue herausstellten, und befestigten sie mit Pflöcken am Boden. Beim Objekt handelte es sich offensichtlich um einen Zeppelin, der wie ein UFO aussehen sollte. Kaum war mir das klar, öffnete sich unten an der Kabine eine Lucke und eine Leiter wurde zu Boden gelassen. Ich beschloss zu landen und mir das Ganze genauer anzusehen.
Ich ging in einiger Entfernung zu Boden und schlich durch den Wald zurück. Am Waldrand erspähte ich einen Lastwagen. Mehrer Männer beluden ihn mit Kisten, die aus dem Zeppelin per Seilwinde heruntergelassen wurden. Ein Mann – offensichtlich der Boss – stand in der Mitte und kommandierte die anderen herum. Mit meinem Handy machte ich Fotos. Die Umladeaktion war schnell erledigt. Die Männer stiegen in den Lastwagen und der Chef über die Leiter in den Zeppelin. Als er fast oben war, drehte er sich um und rief den anderen etwas zu. Im Licht des Scheinwerfers war sein Gesicht für einen kurzen Moment zu erkennen: Es war Wolf. Der Zeppelin war aber schnell ausser Sichtweite. Ich kletterte auf die Ladefläche des Lastwagens gerade noch bevor er abfuhr. Was war in den Kisten? Das übliche – Drogen, Waffen, Zigaretten? Nein.
Es waren kleine Kapseln. Während der Lastwagen losfuhr, nahm ich sie in Augenschein. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Kaffeerahmportionen, waren aber aus Aluminium. Es war mir ein Rätsel für was sie gut sein sollten. Also steckte ich eine Handvoll ein und machte mich aus dem Staub. Und in den Matsch. Dort landete ich nämlich nach meinem tollkühnen Sprung von der Ladefläche. Mit dem im Handy eingebauten Ortungsgerät peilte ich die XP-71 an. Ich hatte einen 5 Kilometer langen Fussmarsch durch unwegsames Gelände vor mir. Zu allem Übel hatte ich mir beim Absprung den Knöchel verknackst. Was für eine beschissene Nacht.
Als ich zurück in meinem Büro war, ging gerade die Sonne auf. Mit einem Wisch räumte ich meine Coach von Papier und Abfall frei und legte mich hin. Ich träumte von Zeppelinen, Kapseln und einer Alarmsirene. Gerade letztere störte mit ihrem schrillen Läuten speziell. Auch als ich langsam erwachte, schrillte der Alarm weiter. Als sich der Nebel vor meinen Augen und in meinem Kopf langsam lichtete, realisierte ich, dass mein Telefon für den Lärm verantwortlich war. Melissa klingelte Sturm. Sie wollte wissen, was ich herausgefunden hatte.
Wir trafen uns bei ihr im Büro. Ich wurde eifersüchtig. Im ihrem Büro hätte meines mehrmals bequem Platz gefunden. Anscheinend sah man mir die Strapazen der letzten Nacht noch an. «Erstmals gibt’s einen Kaffee», meinte Melissa. Sie hatte eine dieser modernen Maschinen, die nicht einfach eine koffeinhaltige schwarze bittere Brühe produziert. Nein dieser Kaffee soll Genuss pur sein, ja gar Kunst. Nicht umsonst fragt ein weltbekannter Schauspieler in Werbespotts: «What else?»
«Willst Du ‚Ristretto’, ‚Arpeggio’, ‚Livanto’, ‚Cappricio’, ‚Volluto’, ‚Cosi’, ‚Dulsao’ oder ‚Indrya’? ‚Rosabaya’ und ‚Roma’ habe ich leider nicht mehr.» Ich starrte sie verständnislos an. Sie zeigte auf längliche Kartonstangen in verschiedenen Farben. Darin waren Kapseln. Genau solche wie ich sie noch von gestern Nacht in der Manteltasche hatte. Ich verstand gar nichts mehr. Weshalb sollte jemand auf eine gerade zu lächerlich aufwendige Art Kaffeekapseln ins Land schmuggeln? Weshalb trinkt überhaupt jemand Kaffee aus Kapseln? Das Gesöff aus der alten Espressokanne in meinem Büro war für mich immer noch gut genug. «Du hast keine Ahnung», meinte Melissa kopfschüttelnd. «Weisst du wie viel diese Kapseln kosten. Die sind verdammt teuer und nur in ausgewählten Läden zu kaufen.» Da die Produktionskosten bei grossen Mengen sehr gering ausfallen, sei der Preis reine Marge. «Wenn Wolf pro Woche eine Zeppelinladung einfliegt und verkauft, verdient er jeweils um die 100’000 Franken.»
«Wie schnappen wir nun Wolf?», fragte ich Melissa. «Gar nicht. Für mich ist die Angelegenheit erledigt. Da weder fremde Mächte noch Ausserirdische involviert sind, fällt sie nicht mehr in meine Zuständigkeit.» Sie drückte mir einen Scheck in die Hand und einen Kuss auf die Wange. Das wars. Ich verstand die Signale und verschwand sprachlos aus ihrem Büro und dem Gebäude des Amtes für auswärtige Angelegenheiten. Weder Melissa noch ihre Vorgesetzten machten sich etwas aus Tschannen. Ich eigentlich auch nicht. Aber wie gesagt, nahm ich es persönlich, dass ich nicht ernst genommen wurde. Ein Fehler, der jemand bereuen würde… Wolf.
Aber wie sollte ich Wolf beikommen. Die Beweislage war dünn. Allerhöchstens konnte ich ihm den Kaffeekapsel-Schmuggel vorwerfen. Mit seinen gutbezahlten Anwälten würde es dafür höchstens eine Bewährungsstrafe geben – wenn überhaupt. Das war mir nicht genug. Da kam mir eine teuflische Idee, ich griff zum Telefon. Zwei Stunden später sass ich mit einem gut aussehenden, grauhaarigen etwa 50-jährigen Mann in einem Café. Er zeigt sich an den Vorkommnissen sehr interessiert. Ich erzählte ihm jedes Detail, zeigte ihm die Fotos und händigte ihm meine Kapseln aus. Er schaute sie kurz an und brummte verächtlich: «Fake». Mit seinem topmodernen Smartphone nahm er eine «kleine» Transaktion vor. 10’000 Franken wanderten von einem der zahlreichen gutgeäufneten Kassen eines international tätigen schweizerischen Lebensmittelmultis auf mein Konto. Ich gab dem Mann die Hand und ging nach Hause. Damit war für mich die Sache erledigt. Eine Woche später war Wolf erledigt. Erst gingen seine Geschäfte den Bach runter und dann verschwand er selbst. Für immer. Mit dem grössten Lebensmittelkonzern der Welt und dessem schauspielendem Werbeträger legt man sich besser nicht an.
Für mich nahm die Sache ein gutes Ende. Schliesslich schaute ein hübscher Batzen dabei raus. Das Geld würde mich für einige Monate über Wasser halten. In einer billigen Spelunke liess ich die Vorfälle Revue passieren. Hatte ich richtig gehandelt, als ich Wolf, den ich nicht überführen könnte, der Selbstjustiz eines Industrieunternehmens überliess? Ich trank meinen Schnapps auf Ex und zuckte mit den Schultern: Ja, es war richtig. Schliesslich bin ich ein kleiner Schnüffler und nicht ein Staatsbediensteter, der sich ums Gesetz scheren muss. Auf einmal berührte eine Hand zärtlich meine Schultern. Es war Jelena. Sie schaute mich verführerisch an und erneuerte ihr Angebot. Ich liess sie ein zweites Mal abblitzen und ging nach Hause.
Als Tanner zu Ende erzählt hatte, wurde es an der Theke ruhig. Eine solche Geschichte muss man sich setzen lassen. «Und was ist mit Melissa», durchbrach eine Stimme aus dem Hintergrund die Stille. «Ich weiss es nicht. Ich habe sie nicht mehr gesehen.» In der Stimme Tanners schwang echtes Bedauern mit. «Bis heute.» Erst jetzt fiel den Gästen die Person am Ecktisch auf: Eine schlanke, elegant angezogenen Blondine. Sie stand auf und nickte Tanner zu. Der verabschiedete sich eilig und verliess mit der Frau das Lokal.
Mehr zu «Geschichten von der Theke»: https://mcstrider.com/2012/07/17/geschichten-dies-und-jenseits-der-theke/
Tanner, der neue Maloney! Besonders gefällt mir die hintergründige, witzige Gesellschaftskritik.
By: Verena Zimmermann on Februar 23, 2013
at 10:31 am