Beim Blick zum Fenster hinaus kommt mir ein Lied in den Sinn: «Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?». Erstmals stellte Rudi Carrell im Juni 1975 diese Frage und seither praktisch jeden Frühsommer wieder. So auch letztes Jahr.
Die Deutsche Zeitung «Die Welt» versuchte damals, dem Phänomen auf die Schliche zu kommen. «Und da die Leute ja immer dazu neigen, über das Wetter zu klagen, immer unzufrieden sind mit dem Sommer und sich einbilden, früher sei alles besser gewesen, ist natürlich so ein Lied wunderbar geeignet, um Zeitaktuelles zu kommentieren», erklärt da der Literaturwissenschaftler Professor Rainer Moritz, Leiter des Literaturhaus Hamburg.
Einer genaueren Betrachtung, hält der Liedtext heuer aber nicht stand. Wie so häufig, wenn wir uns einbilden, früher sei alles besser gewesen. Gerade die Songzeile zum Ende des Refrains stimmt ja so gar nicht: «Ja mit Sonnenschein von Juni bis September und nicht so nass und so sibirisch wie im letzten Jahr.» Nass und sibirisch? Der Sommer 2015? Wohl eher nicht. Andere Textzeilen weisen da mehr Wahrheitsgehalt auf: «Der Winter war der Reinfall des Jahrhunderts. Nur über tausend Meter gab es Schnee.» Das kommt uns doch schon eher bekannt vor.
Aber wie sah es dann im Juni 1975 aus als Carrell das Lied erstmals anstimmte? Ich kam damals gerade auf die Welt. Das meine Erinnerung an das damalige Wetter entsprechend diffus sind, sieht man mir hoffentlich nach. «Die Welt» hat zum Glück bei Jens Oehmichen vom Deutschen Wetterdienst nachgefragt. «Der Sommer 1975 fing relativ kühl an», erklärt der. Dann habe er, als ob Rudi erhört worden wäre, nachgelegt. «Der August 1975 war ein Sommer, wie er im Buche steht.»
Übrigens sind weder Melodie noch Text von Rudi Carrell. Ersteres stammt von Steve Goodman. Beim Originalsong «City of New Orleans» geht es um soziale Ungerechtigkeiten. Schuld daran war Richard Nixon, der den Bahnbetreibern erlaubte, unrentable Stecken stillzulegen. Deren Aus traf viele arme Menschen hart. Carrell oder besser gesagt dessen Texter Thomas Woitkewitsch gab die Schuld am schlechten Wetter übrigens der SPD. Um genau zu sein, gibt Woitkewitschs Milchmann der SPD die schuld. Neben Carrell hat auch Schlagersänger Ronny Goodmans Original gecovert.
Und was bleibt, abgesehen von einem Ohrwurm, der mir nicht mehr aus dem Kopf will? Die Erkenntnis, dass das Wetter macht, was es will. Und dass es trotz einem Zürcher Böögg mit langer Leitung, Regen und Kälte zu Pfingsten und eines Liedes aus dem Jahre 1975 viel zu früh ist, sich über die Qualität des Sommers 2016 Sorgen zu machen.
Dieser Text erschien am 14.5.2016 in der Rubrik Kopfsalat im Berner Oberländer
Kommentar verfassen